„Ich, ich… ich habe Ihnen doch schon alles erklärt. Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Gestern hielt ich einen Vortrag an der karibischen Küste. Heute war ich schon auf dem Heimweg nach Europa. Bitte glauben Sie mir. Es ist reiner Zufall, dass ich in Medellin gelandet bin. Und ich weiß auch nicht, wie ich zur Familie Escobar gelangen konnte. Okay, ich habe kein Alibi und es gibt auch keine Zeugen. Aber mit diesen Leuten habe ich nichts zu tun. Ich bin unschuldig…“ Ungefähr so würde ich mich wohl rechtfertigen, würde mich die kolumbianische Polizei verhören, wie intensiv ich meine Kontakte zur Familie Escobar pflege.

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Hinter Gitter

Ehemaliges Zentrum des weltweiten Kokainhandels

Nach Kolumbien war ich 2017 eigentlich nur geflogen, um in Cartagena einen Vortrag bei einer kommunikationswissenschaftlichen Konferenz zu halten. Und ein Rückflug aus Kolumbien nach Europa verläuft nur über Umwege. Mein Zwischenstopp lautete: Medellin. Ich hatte 24 Stunden. Für mich bedeutete das: Favelas erkunden. Und gut zu essen. Natürlich wusste ich, dass Medellin einst die gefährlichste Stadt der Welt und Wohnsitz von Pablo Escobar war. Aber vom Massenmörder, blutrünstigen Drogenbaron und dem laut US-Zeitschrift Forbes einst siebentreichsten Menschen der Welt gab es keine offiziellen Relikte. Klar. Denn die vom US-Magazin Wall Street Journal 2012 ausgezeichnete „innovativste Stadt der Welt“ unternimmt noch immer große Anstrengungen, um das Image der ehemaligen Hauptstadt des globalen Kokainhandels aus den 80er und 90er-Jahren loszuwerden.

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Escobars kolumbianische Frauen badeten im Geld

Das Geschäft mit Drogenmythen

Gegen viel Geld gibt es mittlerweile private Touren von selbst ernannten Insidern. Das Geschäft mit dem berühmten Drogenbaron floriert wieder. Spätestens seit der Netflix-Serie „Narcos“ nimmt die Bewunderung der Figur Pablo Escobar zunehmend ikonographische Züge an. Als ich in Medellin landete, wusste ich nur, dass der Kokainkönig am Montesacro-Friedhof begraben war. Aber ein Grabstein? Nein. Mich interessierte das Stadtleben. Und das Zentrum war noch verrückter als es laut war. So verrückt, dass weiterhin eifrig getötet wird. 600 Morde in Medellin pro Jahr. Aber das ist nichts, worüber man sich als Tourist Sorgen machen müsste. Das ist Sache der Drogenbanden. Taxifahrten könnten abenteuerlicher sein…

Taxifahrt durch Medellin

Nicht dass mich der Taxifahrer gefragt hätte, wohin ich möchte. Nein. Im Gegenteil. Völlig ungefragt zeigte er mir zuallererst obszöne Fotos von Prostituierten und lachte laut dabei. Erst dann fuhr er los. In seine Richtung. Wohlgemerkt. Auch der Verkehr interessierte ihn wenig. Es überraschte mich nicht, dass er zu all diesen Bildern dann persönliche Kurzgeschichten zu erzählen hatte. Und enthusiastisch gestikulierte. Ich musste ihn schon unterbrechen, um ihm endlich sagen zu können, dass ich in die Favelas mit den roten Backsteinhäusern möchte. „Blödsinn. Warum die Favelas? Komm, ich bringe Dich zum Hause Escobar.“ 

Es sei ein Museum und liege hier in der Gegend von Las Palmas. Komisch. Ich wusste nichts davon. Dann nahm er einen steilen Weg durch einen Kiefernwald und blieb vor einem hohen blauen Eingangstor stehen. Naja, wenn ich schon mal hier bin, sehe ich es mir an. Den Taxifahrer wollte ich jetzt nach seinem Preis fragen. Aber stattdessen zeigt er mir wieder zwei nackte Frauen auf seinem Smartphone und lachte laut. Dann fuhr er weg. Seltsamer Kerl.

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Mein Treffen mit Escobar in Medellin (COL)

Casa de Escobar

Ich klopfte. 3-4 Meter hoch war der Zaun. Mit Glasscherben dekoriert. Eine freundliche Dame sperrte das blaue Tor auf. Im Innenhof war ein kleines Haus. „Das ist das Haus von Pablo Escobar.“ Dass ich nicht lache. Was für ein Reinfall! Völlig unspektakulär. Dann nannte sie mir den Preis für eine geführte Tour: 35 US$ sollte ich bezahlen. Zum Vergleich: Für 5 US$ hatte ich übernachtet, für 2 US$ ein dreigängiges Mittagsmenü verzehrt. Pure Abzocke! Denn es gab kein Museumsschild. Könnte jedes beliebige Haus sein. Ich gehe. „Moment. Trinken Sie doch einen Kaffee mit meinem Vater.“ Na gut. Kaffee geht immer. Besonders in Kolumbien. Wenig später kam ihr Vater und brachte ein Gästebuch. Tatsächlich gab es darin völlig begeisterte Kommentare von Menschen aus aller Welt. Also gut. Meine Zeit in Medellin war sowieso limitiert. Ich nehme die Tour.

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Roberto Escobar mit Sebastián Marroquín (Sohn von Pablo Escobar) vor dem Weißen Haus in Washington DC
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Pablo Escobar mit Sohn vor dem Weißen Haus in Washington D.C.

Fuhrpark von Pablo Escobar

Schon nach den ersten Minuten war ich völlig begeistert. Zuerst zeigte mir die freundliche Dame das gepanzerte Fluchtauto von Pablo Escobar mit mehreren Einschusslöchern. Weiter ging’s mit dem originalen Jet-Ski aus einem James Bond-Film. Mit einem als Polizeiauto getarnten Fahrzeug befreiten sie einmal einen inhaftierten Freund direkt aus einer Polizeistation. Nicht zu fassen! Auch ein Oldtimer von Frank Sinatra stand hier. Einer der einflussreichsten US-Künstler soll für Escobar das Eingangstor zur Kokainversorgung der amerikanischen Hi Society gewesen sein. 

Überraschung

Irgendetwas stimmte nicht an der Führung. Denn bei jeder Geschichte erzählte die Dame ständig von ihrem Onkel und ihrem Vater. Mein Spanisch war auch nicht so gut, dass ich alles verstehen konnte. Bis ich nachfragen musste: „Entschuldigen Sie, aber wer ist noch einmal Ihr Onkel?“ – „Pablo Escobar. Und das ist sein Bruder. Mein Vater.“ In diesem Moment kam der kleine, schmale 70-jährige Mann hervor, mit dem ich vorhin Café getrunken habe: Roberto Escobar. Starr vor Schreck lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Gerade stand ich vor einem der meist gesuchtesten Verbrecher des 20. Jahrhunderts. Als Komplize seines berühmten Bruders Pablo, gab es gleichzeitig keinen besseren Experten für diese Tour.

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Einschussloch in das gepanzerte Auto von Pablo Escobar
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Einschussloch im Fenster im Hause Escobar
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Pablos Harley Davidson

Geschichten eines Mafia-Bruders

Herr Escobar erzählte mir, dass der Staat ihm diesen Bungalow noch nicht weggenommen hat, von wo man einen direkten Blick auf den Flughafen im Tal hatte. „Pablo besaß hunderte Häuser in Medellin. Manchmal fiel nachts in der ganzen Stadt der Strom aus. Da wusste man: es war wichtig.“ Stolz berichtet er von der Freundschaft zu Frank Sinatra. Ein anderes Foto zeigt ihn mit seinem Bruder Pablo und dessen Sohn vor dem Weißen Haus in Washington D.C.. Daneben war ein Foto mit Fußballikone Carlos Valderrama zu sehen. Pablo förderte damals massiv den kolumbianischen Fußball, woraufhin Atletico Nacional Medellin 1989 die südamerikanische Copa Libertadores gewann.

Nur durfte man Osito, dem Bärchen, nicht die falschen Fragen stellen. Kein besonders sympathischer Mensch. Dann begann er u.a laut über die Netflix-Serie „Narcos“ zu fluchen, die er auf eine Milliarde Dollar verklagt hatte. Roberto Escobar schloss sich dem Kartell seines Bruders erst in den 1980er Jahren an. Davor studierte er Chemie und Elektrotechnik. War Südamerika-Meister mit dem kolumbianischen Radteam und züchtete Pferde.

Bis er sich als Buchhalter um die Logistik des Familienbesitzes kümmerte. Und das war viel Arbeit. Er verwaltete das Drogengeld, gründete Scheinfirmen und parkte es gemeinsam mit Finanzberatern in Grundbesitz, Immobilien und weltweiten Konten. Roberto beruhigte sich erst, als ich die richtigen Fragen zu „El Patron“ stellte. Pablo. Der Mann, der Sozialwohnungen für die Ärmsten, Schulen und Krankenhäuser finanzierte. Und der Bürokomplexe errichtete, Zoos und Diskotheken baute, in Sport investierte und als Politiker mit Diplomatenpass in die USA reisen konnte.

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Einschussloch im Hause Escobar

Ende der Escobar Brüder

Um einem Auslieferungsbefehl der USA zu entgehen, ließ sich Pablo Escobar 1991 in Kolumbien verhaften. Dort brachte man ihn in sein selbst erbautes Luxusgefängnis. Wo es ihm dennoch bald ungemütlich wurde. Auf Pablo Escobar und den Mann neben mir wurden 1993 ein Kopfgeld von jeweils 10 Millionen Dollar ausgesetzt. Roberto erzählte mir, dass ihm sein Bruder befohlen hat, sich freiwillig der Polizei zu stellen, um überleben zu können. „Das habe ich gemacht.“ Wenig später wurde Pablo Escobar von einem kolumbianischen Sonderkommando in Medellin getötet. „Was für eine Lüge! Pablo hat mir hier auf diesem Tisch 3 Tage vor seinem Tod noch persönlich gesagt, dass er sich durch einen Kopfschuss töten wird. Niemals hätte er zugelassen, dass ihn Verräter ermorden.“ 20.000 Menschen waren beim Begräbnis.

Roberto Escobar bekam 14 Jahre Haft. Aus Geltungsdrang presst er heute Geld aus dem verzerrten Mythos der Escobar-Brüder. Auf einem Auge ist er fast blind, weil in seiner Zelle eine Briefbombe in seinen Händen explodierte. „Das war die Regierung.“ Immer noch hat er Angst vor alten Rivalen, erzählt er mir. Als er das Museum eröffnete, hätten ihn rachsüchtige Feinde beinahe umgebracht. Die Einschusslöcher zeigte er mir im Fenster und im Sofa. Seitdem ist alles videoüberdacht. Leibwächter sind hier. Und ich frage mich, wie ich bloß in solche Kreise geraten konnte

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Kopfgeld von 10 Mio. US$ auf den Mann neben mir (Roberto Escobar)