Nie wieder wollte ich mein Leben so auf die Probe stellen, wie 2011 am Fuße des Mt. Everest auf über 4.000m. Die eine Stimme fand sich mit diesem Höhenlimit ab. Die andere war überzeugt, dass andere Faktoren für meine damalige Notlage verantwortlich waren. 3 Jahre später sollte ich mich monatelang im andinen Hochplateau zwischen 2.000-4.500m bewegen. Deshalb besuchte ich aus Selbstdisziplin kurz davor meinen Lungenarzt und der meinte angesichts meiner Werte, dass ich ein Höhenlimit von 3.500m nicht überschreiten darf. Diamox wurde mir verschrieben, falls ich mich einer Höhe von 4.000m nähern sollte. Das sei aber das Maximum. Ernst genommen habe ich das schon. Gleichzeitig war mir klar, dass Herr Arzt unmöglich die Gesamtfaktoren für so eine komplexe Lage in seiner routinemäßigen Prognose berücksichtigen konnte. Vernünftiger erschien es mir, mich am Hausverstand, statt an Zahlen zu orientieren. 

Huayna Potosi, Bolivia, Travel Drift
Huayna Potosi - ein Berg wie aus dem Bilderbuch

Beginn der Akklimatisation

Ende Jänner lande ich in Quito (Ecuador). Von 0 auf 2.800m in wenigen Stunden. Sofort höhenkrank. 3 Tage Bett: Schwindel und Übelkeit. Schon kurz danach bot sich dann schon die erste Gelegenheit zum Test: Quitos Luftseilbahn (TelefériQo) führt zum Bergsattel des Pichincha-Vulkans auf 3.996m hinauf. Ideal. Falls es mir schlecht ginge, könnte ich ja gleich wieder hinunter fahren. Dazu kam es aber nicht. Kein Anzeichen von Kopfweh. Sollte ich es nun wagen, ganz spontan den Vulkangipfel (4.700m) zu besteigen? Verrückt. Aber ausreichend Wasser hatte ich ja dabei. Gesagt, getan. Wenig später stand ich am Gipfel. Höher als bei meinem Everest-Trek, und das ohne Kopfweh. Schon nach wenigen Tagen hat sich die Arzt-Prognose relativiert.

Seit 2 Wochen in den Anden

Als nächster Test folgte der Quilotoa-Loop. 12,5km einem Vulkankrater entlang – auf einer Höhe von 3.900m: ebenso keine Kopfschmerzen. Und der folgende Berg war der Test für höhere Ziele: die Besteigung des Iliniza Norte (5.126m). Mit Bergführer und Ben. Mein Kumpel Ben musste jedoch 300m unterhalb des Gipfels umkehren. Auch weil wir zu schnell hinauf marschierten. Zu stark wurden seine AMS-Symptome. Und bei mir gab es noch immer keine Spur von Kopfschmerzen – auch nicht am Gipfel. Das konnte ich mir nicht erklären. Aber überglücklich war ich. Mein erster 5.000er

Seit 1 Monat in den Anden

Mein Körper gab grünes Licht. Ziel: Cotopaxi (5.896m). Wäre ich am Iliniza Norte gescheitert, wäre Cotopaxi nie zum Thema geworden. Umso professioneller wollte ich mich jetzt vorbereiten. Richtig gegessen. Viel getrunken. Tief geschlafen. Und dann – am Morgen der Cotopaxi-Besteigung – als ich um 01.00 nachts auf 3.500m aufwachte und wir zum Gletscher auf 4.700m losfahren sollten, waren die AMS-Symptome schon da, bevor es wirklich losging: Kopfschmerzen und etwas Übelkeit schon auf 3.500m! Wie konnte das nur passieren? Anfangs war mein Ärger riesig. Dass ich dadurch nämlich den Gipfel an diesem Tag nicht erreichen würde, war mir sofort klar. Aber die Aussicht, Cotopaxi näher zu kommen, war attraktiv genug. Beim Gletscher schnallte ich mir die Steigeisen an. Los ging’s. Ich war der langsamste und legte die meisten Pausen ein. Die Kraft hat mich längst verlassen. Bis auf 5.528m schleppte ich mich hinauf, dann zeigten meine Stiefelspitzen nach unten. Das wars. Die wenig übrigen Reserven musste ich für die Rückkehr aufsparen. Ein Grinsen, als hätte ich den Gipfel erreicht. Die Aussicht war hier überwältigend. Nun kannte ich also mein Höhenlimit. Hier. Am meisten war ich aber stolz darauf, den Mut zum Abbruch gehabt zu haben. 

Cotopaxi, Ecuador, Travel Drift
Mein Abbruch am Cotopaxi bei 5.300m.

Seit 2,5 Monaten in den Anden

An Höhenbergsteigen dachte ich eigentlich gar nicht mehr. Bis mir auf dem Weg von Peru nach Bolivien ein Australier von seinem Bergerlebnis am Huayna Potosi (6.088m) vorschwärmte – und diese Idee unabwendbar wie einen Virus in mich platzierte. Zwar spürte ich in den ersten Tagen nach dieser Erzählung weiterhin kein Verlangen. Dass aber mittlerweile 2,5 Monate Trekking in den Anden die ideale Vorbereitung für so ein Vorhaben wären, konnte ich weder leugnen noch ignorieren. Und war nicht der wahre Grund für den Abbruch meiner Cotopaxi-Besteigung einfach eine schlechte Tagesverfassung? Schon entfaltete sich der Virus. Wieder war ich mit Höhenbergsteigen infiziert – diesmal ohne jegliche Vorfreude. Zu groß war der Respekt vor diesem Berg, den die Bolivianer ganz stolz als den Berg auf dem Paramount Pictures-Logo bezeichnen.

Höhentraining

Das meiste davon absolvierte ich unbewusst bereits in den vergangenen 2,5 Monaten. 1 Woche vor meinem Aufstieg ging ich in La Paz auf einer Höhe von 3.800m zwei Mal pro Woche laufen und spielte Fußball. Damit wollte ich mehr rote Blutkörperchen produzieren, um mehr Sauerstoff aufnehmen und transportieren zu können. Nach diesen Einheiten schenkte ich meinem Körper viel Ruhe. Zusätzlich suchte ich mir noch einen Probeberg. Der Chacaltaya (5.421m) ist wie gemacht für ein Akklimatisations-Training. Bis auf 5.100m kann man dort mit dem Bus hinauffahren, dann muss man „nur“ noch 300 Höhenmeter zu Fuß schaffen. Ich ging aber nicht hinauf. Laufen war die Challenge. Das war mein persönlicher Test. Sollte ich joggend keine Kopfschmerzen haben, würde ich bereit sein für den Bilderbuch-Berg. Und das war der Fall.

Huayna Potosi, Bolivia, Travel Drift
Eisklettern am Huayna Potosi. Mein 1. Mal.

Aufstieg - Tag 1

2 Tage und 1 Nacht wären für den Aufstieg möglich gewesen. Ich buchte 3 Tage und 2 Nächte. Stress brauche ich in diesen Höhenlagen nicht. Und ich buchte einen Bergführer für mich allein – doppelt so teuer – aber ich wollte nicht vom Gesundheitszustand anderer abhängig sein. Die Fahrt von La Paz zum Basislager (4.700m) dauerte ca. 3 Stunden. Miguel, mein Bergführer, der schon einige hundert Mal am Gipfel war, lenkte den Landcruiser. Im Basislager treffe ich zwei Japanerinnen und einen Deutschen. Am Nachmittag steigen wir mit Miguel zum Gletscherrand auf 5.000m hinauf. Zu Übungszwecken. Ich soll eine senkrechte Eiswand mit Eispickeln empor klettern. Notiz: ich habe absolut keine Klettererfahrung, noch nie hatte ich einen Eispickel in der Hand oder eine Eiswand vor mir. Besonders gut stelle ich mich nicht an, aber es ging. Die Japanerin kletterte hoch wie ein Affe. Abends zurück im Base Camp warteten Essen und Bett.

Aufstieg - Tag 2

Ich habe den Umständen entsprechend gut geschlafen. Nach dem Frühstück starten wir. Mit 15kg am Rücken. Hinauf zu Lager 2. Etwa 3h sollten wir für die 550 Höhenmeter über Fels und Geröll benötigen. Miguel ging in einem Tempo, als ob er am Strand spazieren würde. Aber er ging nie zu weit voraus und ermunterte mich immer wieder zu Pausen. Nach 1h 50min erreichten wir Lager 2 (5.270m). Viel zu schnell, dachte ich. Hoffentlich habe ich nicht meine wertvolle Energie für morgen verschwendet. Denn nun befinde ich mich auf einer Höhe, in der der menschliche Körper nicht mehr regenerieren kann: man baut physisch und psychisch ab. Miguel bringt Schnee in die dunkelrote Wellblechhütte und kocht daraus Tee für uns. Niemand spricht. Wäre auch reine Energieverschwendung. Meinem Motto – höher steigen, tiefer schlafen – möchte ich auch jetzt treu bleiben. Nachmittags stapfe ich allein durch den Schnee, noch etwa 100 Höhenmeter hinauf. Ich sehe mich um. Die gewaltige Schönheit dieser weißen Eiswüste beeindruckt mich. Meine Mundwinkel heben sich. Dann stapfe ich wieder zurück. Abends nach dem Essen gibt uns Miguel noch das Briefing:

Bis 5.700m steigen wir konstant steil nach oben. Dann wartet eine fast senkrechte Wand. Da müssen wir uns mit den Eispickel auf 5.800m hochziehen. Dafür brauchst Du Deine ganze Kraft! Wenn Du also bei 5.400m oder 5.600m merkst, dass Du völlig erschöpft bist, kehrst Du sofort um. Sonst bringst Du später Dich und andere in Lebensgefahr. Falls Du die Wand schaffst, steigen wir zum zweiten kritischen Punkt auf knapp 6.000m. Von dort bilden wir eine Seilschaft. Denn auf dem Gipfelgrat hast Du manchmal nur Platz für einen Deiner Stiefel. Also schau nicht nach unten, sondern nach vorne. Hast Du gehört? Nach vorne schauen.

Huayna Potosi, Bolivia, Travel Drift
Lager 3 (5.300m)

Gelähmte Hand

Was für eine Gute-Nacht-Geschichte… Nicht nur deshalb konnte ich nicht schlafen. 10min lang war ich völlig außer Atem, jedes Mal nämlich, wenn ich mich im Schlafsack umdrehte. Um Mitternacht läutete der Wecker. Kein Auge zugemacht. Wie sollte ich mich jetzt bloß hinauf schleppen!? Drei Mal muss ich hinaus auf die Toilette. Beim Frühstück kam der Schock: Die Finger meiner rechten Hand wurden plötzlich steif. Paralyse. Sie verkrampfen. Schaltet mein Körper jetzt auf Notstrom? Schnell rufe ich Miguel um Hilfe. Aber der beruhigte mit seiner üblichen Art. „Kommt vor.“ Mit einer Hand, die ich weder spüren noch bewegen konnte, war kein Aufstieg möglich. Aber ich aß erst einmal mit der linken Hand weiter. Miguel erzählte, dass vor einigen Jahren einer Schweizerin die Finger amputiert werden mussten, weil sie oben am Gipfel so viele Fotos machen wollte. Das war Miguel’s Art zu beruhigen. 10min später kam endlich ein schmerzhaftes Kribbeln. 15min später war das Gefühl wieder da. Durchatmen. Anziehen. Los!

Aufstieg - Tag 3

45min später als vorgesehen starten Miguel und ich um 01:45 Uhr. Leichtes Kopfweh, aber nicht schlimm. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Immer gleichmäßig atmen, dachte ich. Und dann dauerte es auch nicht lange, als wir den Deutschen einholten. Akute Höhenkrankheit. Er kehrte mit seinem Guide um. Bloß nicht beirren lassen! Langsam weiter gehen. Einatmen. Ausatmen. 2h später erkannte ich dann auf etwa 5.500m plötzlich die zwei Japanerinnen. Ich freute mich, in so einer Gegend Bekannte zu treffen. Zunächst. Dann sah ich den Grund: Akute Höhenkrankheit. Auch sie kehrten um. Oh Mann! Die wirkten gestern viel stärker als ich. Konzentriert bleibenLangsam weiter gehen. Einatmen. Ausatmen. Mein leichtes Kopfweh wurde nicht schlimmer. Ich fühlte mich gut. Und dann erreichten wir die Eiswand auf 5.700m.

Eiswand

Überglücklich war ich, hier sein zu dürfen, obwohl ich die Eiswand gar nicht sah. Es war ja stockfinster. Miguel positionierte sich schon hinter mich. Diesmal sollte also ich die ersten Akzente setzen. Eispickel in die Hand. Und los! Zu meiner Erleichterung war die Eiswand gar nicht senkrecht, nur ziemlich steil. Meine Eispickel und Steigeisen donnerte ich bei jedem Griff und Tritt ins ewige Eis, so konnte ich mich gut hochziehen. Erstmals dachte ich: diese Wand könnte ich überwinden. Und tatsächlich. Wir haben es geschafft.

Jetzt war ich auf 5.800m. Zeit für eine Bananenpause. Aber meine hat sich in Bananeneis verwandelt. Auch mein Trinkwasser war längst zu Eis geworden. Also sah ich mich um. Ich sah das leuchtende La Paz tief unten. Da! Ein Flugzeug. Es schien fast auf Augenhöhe zu sein. Die Sterne waren unglaublich schön von hier. Und dann merkte ich, dass mein Kopfweh weg war. Das Ziel schien also tatsächlich möglich. Wir stapften weiter. Miguel ging wieder voraus und lauschte meiner Atmung. Wenn sie zu schnell war, blieb er stehen. Wir waren wirklich ein tolles Team! Und dann standen wir auf dem letzten Bergsockel. Während ich mich ausruhte, bereitete Miguel alles für das letzte kritische Stück vor.

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Blick von 5.800m auf das leuchtende La Paz

Gefahr! Umdrehen?

Durch das Mondlicht konnte ich ein wenig erahnen, was mich hier erwartet. Nein, dachte ich. Das ist zu verrückt! Der Weg ist zwar meistens 80cm – manchmal aber nur 20cm breit. Links geht es 300m senkrecht nach unten. Rechts 800m. Es hat -17°C. Da vorne ist das Ziel. 88m fehlten zum Gipfel. Aber ich stehe ja schon auf 6.000m. So eine schöne Zahl. Ich musste das nicht mehr tun. Miguel bemerkte mein Hadern. „Du kannst wirklich stolz auf Dich sein. Du hast es so weit geschafft. Wir können auch hier umdrehen. Du alleine entscheidest.“ Ich überlegte. Sitzend. 10min. Knapp vor dem Gipfel umzukehren war für mich tatsächlich ok. Miguel hatte recht. Aber war meine Angst berechtigt? 

Mentalfrage

Das Annehmen des kalkulierten Risikos zwingt einen, sich selbst in Frage zu stellen. Also prüfe ich meine körperliche und geistige Fähigkeit. Körperlich bin ich topfit. Geistig versuchte ich mir den Gipfelgrat auf einer breiten Straße vorzustellen. Niemals würde ich darauf langsam gehend meinen schmalen Pfad verfehlen. Also lag es an meinen Gedanken, nicht an der Situation. Außerdem war es windstill und bis auf die Kälte war das Wetter ausgezeichnet. Die internen und externen Bedingungen waren bestens. Ich stand auf. Und sagte zu Miguel: „Vamos„. Meine gesamte Konzentration floss in die nächsten Schritte. Alle 2 Meter sicherte Miguel das Seil. Selbstgespräche halfen mir. ‚Langsam den linken vor den rechten Fuß. Und jetzt den rechten vor den linken.‘ Nach 20-30 Meter war das schlimmste Stück auch schon vorbei. Ab hier wurde der Grat schon breiter. Und jetzt schoss mir das Adrenalin rein. Jetzt war mir klar: es fehlten nur noch wenige Meter zu einem persönlichen Meilenstein.

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Gipfelgrat auf über 6.000m - auf dem Weg zurück.

Gipfel

Ich fiel Miguel in die Arme. Dann in den Schnee. Und dann brach alles aus mir heraus. Statt mich zu freuen, weinte ich. Ich dachte an meinen Lungenarzt, der mir ein striktes Höhenlimit von 3.500m gesetzt hat. Und daran, dass ich nun ohne Kopfschmerzen auf 6.088m Höhe über dem Meer sitze, topfit bin und sogar tief durchatmen kann. Ich dachte auch daran, wie viele Freunde mir sagten: ‚Du bist lebensmüde, wenn Du das mit Deiner Lunge riskierst.‘ Es gab nur einen Menschen, der an mich geglaubt hat: Ich. Stärke wächst nicht bloß aus körperlicher Kraft oder blindem Ehrgeiz, sondern aus Selbstdisziplin und enormer Willenskraft. Jetzt mache ich die Augen auf. Gelb, orange, rot schimmert es schon am Horizont: Sonnenaufgang. Und meine Augen reflektieren die ersten Sonnenstrahlen einer neuen Zeit zurück.

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a moment forever
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Gipfel (6.088m). Und Schatten des Huayna Potosi auf den Titicaca-See